11.02.2021

Die etwas andere ZEIT

Die etwas andere ZEIT
Oder: das Aufwachen einer traumatisierten Spezies

Über die bisherige menschliche Evolution hat uns unser autonomes Nervensystem mit drei sehr unterschiedlichen Möglichkeiten ausgestattet, auf die Eindrücke aus unserer Umwelt zu reagieren. Die entwicklungsgeschichtlich jüngste, unsere Fähigkeit zur Kooperation, ist ausbaufähig. Die globalen Herausforderungen verlangen uns den nächsten Reifeschritt ab. An vielen Stellen ist diese Entwicklung bereits sichtbar. Ein phänomenologischer Blick auf das Jahr 2020 anhand der Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Von Ann Forker, Geisteswissenschaftlerin und Trauma-Therapeutin

Über das Jahr 2020 wird viel geschrieben werden. Es ist das Jahr von Corona. Das Jahr der Zäsur. Und damit potenziell das Jahr des Neubeginns. Ob es das tatsächlich sein wird, liegt an uns. An unserer Fähigkeit dranzubleiben. Und uns in Hingabe zu üben, wenn die großen gesellschaftlichen Zyklen und die kleinen, in die wir individuell als Menschen mit begrenzter Lebenszeit eingebunden sind, nicht gleich übereinstimmen wollen, sich reiben, uns ausbremsen oder einander aufzuheben scheinen.

Für mich ist in diesem einschneidenden Jahr etwas ganz Unspektakuläres passiert. Ich bin nach einer langen Phase freiwilliger Abstinenz wieder zur Zeitungsleserin geworden. Geschafft hat das „DIE ZEIT“, denn plötzlich habe ich Anknüpfungspunkte entdeckt.

Immer häufiger fand ich Themen in einer Weise aufgegriffen, die tiefer ging, ganzheitlicher schaute und die Fragen unterhalb der aufgeregten polarisierten Oberfläche – schlicht mit dem Blick auf unser Menschsein – behandelte. Mag sein, dass das auch vorher schon der Fall war. Aber in 2020 habe ich es für mich wiederentdeckt. Und das hat eine mögliche Brücke aufgetan – auch meine Perspektive auf das Leben und uns als Menschen in die Waagschale zu werfen, ermutigt, dafür Sprache zu finden und aktiv an einem neuen Diskurs teilzunehmen, den ich selbst eröffnen kann. Mein Eindruck ist, dass ich nicht die einzige bin.

Standortbestimmung: Das Nervensystem unserer Gesellschaft

Und da wären wir auch schon beim großen Bogen, den ich sehe, wenn ich auf das Jahr 2020 schaue : ein wach werden, ein allmähliches, an einzelnen Stellen auch explosives Wiederbeleben von Verbindungen, die taub waren, nicht durchblutet, eingeschlafen in einem Gefühl von Ohnmacht, Resignation oder Bedeutungslosigkeit.

Eingefrorene Energie, Erstarren, Kollaps – all das sind spezifische Merkmale des evolutionsgeschichtlich ältesten Mechanismus, den unser autonomes Nervensystem zur Sicherung des Überlebens für uns bereit stellt. Die drei Seins-Zustände, die unser Nervensystem kennt – in der Reihenfolge ihres Entstehens: Totstellreflex – Kampf und Flucht – kooperatives Miteinander.

Je nach Bedrohungslage fallen wir auf das entwicklungsgeschichtlich frühere – primitivere – „Repertoire“ zurück. Bei erhöhtem Stress-Level geht es genau andersherum: social engagement – fight/ flight – freeze! Im Fall von Überwältigung oder Hilflosigkeit (eine Situation wird subjektiv als bedrohlich eingestuft und es gibt keine Möglichkeit, etwas daran zu verändern) greift unser Körper also auch heute noch auf die automatisierten Funktionen unseres Reptiliengehirns zurück. Dies ist wohlgemerkt ein Notprogramm, unser ältestes. Und radikalstes. Es erhöht kurzfristig unsere Überlebens-Chancen. Zum Leben taugt es dem Menschen nicht. Hängen wir im Gefühl der Hilflosigkeit als Dauerzustand fest, wird es wieder „lebensgefährlich“. Wir sehen Depression, Sinnverlust, schwindende Empathie, sozialen Rückzug, Desinteresse und die Entwicklung chronischer Krankheiten. Burn-Out, Sucht, Suizid sind inzwischen so alltägliche Phänomene, dass sie allgemein akzeptiert und gesellschaftlich kaum hinterfragt zu sein scheinen.

Trauma-Therapie belebt die gekappten Verbindungen, Fragmentiertes fügt sich wieder zusammen, die Geschichte, die mit dem unterbrochenen oder reduzierten Energiefluss verbunden war, wird – über das Nervensystem – geprüft und neu „verhandelt“. Auf dem Weg in diese Neu-Ordnung berühren wir hochexplosives Material. Ich vergleiche diese Arbeit gern mit der eines Hirnchirurgen, denn sie erfordert die gleiche Meisterschaft und Präzision. Das angestrebte Ergebnis ist die Wiederherstellung von Vertrauen. Vertrauen in uns selbst und in unsere Wahrnehmung, davon ausgehend ein mögliches Vertrauen in mein Gegenüber, und ein neues Vertrauen in die Welt als einen Ort, in dem ich mitwirken und gestalten kann. Der erste Schritt heraus aus der Ohnmacht ist die Rückkehr in die Selbstwirksamkeit.

Was für das Individuum gilt, können wir auch in der Gesellschaft beobachten. Die Sprache zeigt es deutlich, ob nun für das scheinbar Gute oder das scheinbar Böse, wir befinden uns im Kampf – nach dem Totstellen der zweite Vorschlag aus dem Repertoire der Überlebensmodi unseres autonomen Nervensystems. Die kollektiven Erinnerungen, die im aufgerüttelt sein durch die Krise gerade wach werden und deren unvermittelter Ausdruck nach außen hin so wenig logisch und nachvollziehbar erscheint, sind die eines unverdauten Schreckens. Skepsis, Misstrauen, Widerstand sind die Antwort auf Manipulation, Überwältigung, Unterdrückung, Verrat und die Gräuel des Krieges. Diese Erinnerungen sind noch nicht „Geschichte“, sie sind in unseren Zellen lebendig.

Für mich beeindruckend, da sprachlich völlig unverwässert auf den Punkt gebracht, hat das der französische Präsident Macron, der zu Beginn der Pandemie verkündete: „Nous sommes en guerre … L’ennemi est là“. „Wir befinden uns im Krieg.“ Auch deutsche Schlagzeilen titeln fast gewohnheitsmäßig vom „Kampf gegen das Virus“ und den Anstrengungen, es zu „besiegen“. Bei aller inhaltlichen Reflektiertheit – Politiker, Wissenschaftler, aufgebrachte Bürger und die Medien, die über sie berichten, bedienen sich bevorzugt der Sprache des Krieges. Das mag nicht schön klingen. Aus der Perspektive der Prozess-Begleitung beinhaltet es jedoch einen entscheidenden Zugewinn. Anders als im Fall von Ohnmacht und Überwältigung spüren wir unsere Kraft und erleben Handlungsoptionen, kurz die Möglichkeit zur Selbstwirksamkeit, die sich in die Bewegung von kämpfen oder flüchten, aber auch – und mit ein bisschen Übung immer mehr – in gemeinsames Gestalten übersetzen kann.

Diese dritte Option, unsere Fähigkeit zur Kooperation, ist mehr als ein „nice-to-have“, wenn man sich zufällig gut versteht oder gerade mal „grün ist“. Sie wird auch in Stress-Situationen zunehmend zu einer echten Alternative zu den automatisierten Vorgängen des „Haudrauf“ oder „Verschwindens“ und taugt durchaus als verlässliche Quelle von Sicherheit und wird damit selbst zur Ressource.

Die offensichtliche Möglichkeit

Das neue gute Zusammen (social engagement) erfordert das Navigieren durch den Sturm (fight/ flight), denn aus der Betäubung (freeze) erwachen wir in genau das Chaos, aus dem uns unser Nervensystem dankenswerterweise herauskatapultiert hat, als es „zu viel“ war. Aus dieser Perspektive betrachtet sehe ich das Chaos, den lebendigen Kampf an Meinungen und auch das Aufbrechen der Extreme und den Rückfall auf Vereinfachung und Polarisierung – so herausfordernd es im Einzelnen ist – als Ausdruck eines beginnenden Heilungsprozesses. In dem, neutral gesprochen, unbesehen der dahinterliegende Gesinnung Menschen ihre Kraft neu entdecken, wieder sichtbar werden, den Mund aufmachen, ihre eigenen Werte ernst nehmen, sich positionieren, sich er-mündigen, im besten Fall sich bereit machen, in Beziehung zu gehen und diese zu gestalten.

Das ist groß. Und es lohnt in meinen Augen, diese vulkanartigen Bewegungen, diese aus Taubheit und Resignation auftauende Energie, erst einmal entspannt zu begrüßen und uns an der Ermächtigung und dem wieder erwachenden Interesse an Mitwirkung und Gestaltung zu freuen – auch wenn uns die Heftigkeit vielleicht erschreckt.

In der Corona-Krise erfüllen sich gleich drei Bedingungen, die das Gelingen eines neuen – vertrauensvollen – Miteinanders, wie wir es gerade suchen, möglich machen können.

Erstens: die Krise ist global und sie ist existenziell. Damit wirft sie uns jenseits von allen Unterschieden zurück auf unseren kleinsten gemeinsamen Nenner, auf die Essenz: unser Menschsein.

Zweitens haben wir es über lange Zeit Irgendwie geschafft, nebeneinander her zu leben.
Das ist nun vorbei. Die „Krise“ und die vielgestaltigen Nöte, die sie bei den einzelnen Gruppen hervorruft, lassen alle blinden Flecken, alle tauben Stellen, alles Verdrehte, schön Geredete, Gleich-Gehuschelte, ans Licht kommen. Wer proklamiert als nächstes seinen Beitrag zur Gesellschaft als system-relevant? Und wie reagiert der „tribe“ darauf? Was machen wir mit denen, die keine Sprache finden? ALLE müssen mit!

Drittens: in der Krise ist Fehler machen endlich wieder erlaubt. Lebenskünstler sein ist kein Schimpfwort mehr. Das enge Korsett geübter sozialer Normen bringt uns hier nicht weiter. Unkonventionelle Ideen und schnelles Prototyping: ausprobieren, wieder verwerfen, verbessern, weiterentwickeln – das sind die besten Merkmale von Kreativität und Spiel, wie wir sie im „social engagement“, der vom evolutionsgeschichtlich jüngsten Teil unseres Nervensystems ermöglicht wird, finden.

Vielleicht trifft es das eher. 2020, Corona – die globale Krise – bringt sie ans Licht, unsere globale Verbundenheit, unsere Verletzlichkeit, die tiefen gesellschaftlichen Verwerfungen, mit denen wir bis jetzt irgendwie durchgekommen sind. Unser Scheitern. Wie in einer individuellen Prozess-Begleitung auch leuchtet das Licht in die unaufgeräumtesten Winkel und Ecken, hält uns unbarmherzig den Spiegel vor und gibt uns die Chance, neu zu wählen und zu gestalten. Zu reifen. Die Menschheit ist eine traumatisierte Spezies. Und vielleicht ist das gar nicht so schrecklich wie es klingt, wenn wir es als etwas Natürliches ansehen können – Trauma als organischer Bestandteil im Zusammenspiel der Kräfte menschlicher Evolution.

Meine persönliche Überschrift für diesen Neu-Beginn: Wir holen Bedeutung und Tiefe in unser gesellschaftliches Leben zurück.

Die Herausforderung des nächsten Schritts

Auch das zeigt die Lektüre der ZEIT: es gibt sie, die Menschen, die dem Mehr an Energie und der damit verbundenen Intensität und Beschleunigung durchaus gewachsen sind. Die brauchen wir. Denn ob individuell in der Therapie oder kollektiv durch Krisen in der Gesellschaft – das Aufwachen aus Überwältigung und Hilflosigkeit ist ein enorm heikler Punkt. An diesem Übergang steht potenziell auf einen Schlag die gesamte unterdrückte Überlebens-Energie in ihrer höchsten Aktivierung bereit. Wie stellen wir sicher, dass die mächtigen Gefühle von Verlust, Ungerechtigkeit, Ohnmacht, Trauer, Wut sich nicht verselbständigen und wir die Geschichte, aus der wir uns gerade befreien, selbst fortschreiben?

Eine mögliche und temporär auch sinnvolle Option, um plötzlich auftauchendes Chaos zu beherrschen, ist Kontrolle. Grenzen setzen, Regeln aufstellen, dafür sorgen, dass sie eingehalten werden. Das hilft. Längerfristig wird die vereinfachende Einteilung in richtig und falsch und ein rigider Umgang mit Abweichungen der Komplexität unserer Gesellschaft und der Ambivalenz des Lebens sicher nicht gerecht. Dafür braucht es reifere Antworten. Und es gibt sie. Unter der Überschrift „Angstfreie, kritische Vielstimmigkeit“ stellt DIE ZEIT im November 2020 der polarisierenden Diskussion bewusst einige der differenzierteren Stimmen zur Seite „Hört auch fachkundigen Abweichlern ernsthaft zu“, „Sprecht mit der Zivilgesellschaft statt über sie“, „Ringt um das beste Argument, nicht um die größte Angst“, „Erliegt nicht der Echtzeit-Hektik“, „Entmündigt die Schwächsten nicht“ … (1)

Und: Reife lässt sich nicht vorschreiben. Sie erfordert gereifte Persönlichkeiten. Thea Dorn spricht mir aus dem Herzen, wenn sie in den grassierenden Hysterien „die Persönlichkeit mit dem allerhöchsten Grad an Integrität und Glaubwürdigkeit auf der großen gesellschaftlichen Bühne“, also echte Autorität, vermisst. (2) Aber ist es wirklich eine Frage der fehlenden Persönlichkeiten? Ja, da gehören sie eigentlich hin, an die gesellschaftlichen Schlüsselstellen, die überdurchschnittlich integren Menschen. Aber wenn sie dort nicht sind, stellt sich uns da nicht eine grundsätzlichere, eine strukturelle Frage? Wo finden wir sie denn, die ganz alltägliche Kompetenz im Umgang mit Krisen, Scheitern und in Würde wieder aufzustehen?

Die Stillen – Ein Exkurs

Ich gebe es zu, der Beginn meiner ZEIT-Reise liegt eigentlich schon im November 2019, als DIE ZEIT mit „Die Macht der Stillen“ titelte. Dort heißt es, der Anteil von extrovertierten und introvertierten Menschen in der menschlichen Gemeinschaft sei ungefähr gleich. (3) Das sind 50%. 50% Lebenserfahrung, 50% Kompetenz, 50% Zugehörigkeitsgefühl und Beteiligungslust, die für unsere großen gesellschaftlichen Belange überwiegend brach liegen. Und die „Stillen“ haben noch etwas, das in der aktuellen Zeit für uns alle von unschätzbarerem Wert sein kann. Sie haben eine riesige Bibliothek mit Ohnmachtserfahrungen – und den Umgang damit. Wenn sie nicht resigniert aufgegeben haben, am eigenen Wertlosigkeitsgefühl oder an den sie umgebenden Strukturen zerbrochen sind, haben viele von ihnen einen wahren Schatz an Kreativität, Unabhängigkeit, Unbestechlichkeit und Integrität entwickelt. Diese Menschen passen scheinbar nicht hinein. Aber vielleicht passen sie sich einfach nur nicht an, an die Strukturen einer Gemeinschaft, die sich selbst in essenziellen Punkten abhanden gekommen und damit unglaubwürdig geworden ist.

Eigentlich gesund. Nichtsdestotrotz steht unausgesprochen die Erwartung an den „Außenseiter“, den Introvertierten im Raum, es sei an ihm, sich auf den Weg zu machen, seine Innengewandtheit und Zurückhaltung – heißt, seine Natur – zu überwinden und den „Lauten“ entgegen zu kommen. Am Introvertierten ist es, Sprache zu finden. Die Bereitstellung adäquater Räume, in denen sein Beitrag gleichwertig Gehör findet, ist Aufgabe der Gemeinschaft.

Daher, liebe Thea, warten wir, bis es die Integren auf die gesellschaftliche Bühne schaffen? Oder verändern wir die gesellschaftliche Bühne? Wie sähe es denn aus, wenn es ein unbedingtes gesellschaftliches Interesse an diesen Stimmen gäbe? Und wenn man Strukturen schaffte, die denen einen zentralen Platz geben, die nicht Entscheidungsträger sind oder deren Natur stiller ist und die – häufig aus guten Gründen – keinen der offiziellen Rede-Plätze im bestehenden System einnehmen – und trotzdem viel zu sagen haben? „Angstfreie, kritische Vielstimmigkeit“ – wie wird sich die Lücke schließen? In früheren Kulturen war das sichergestellt. Da wusste man, das Orakel stellt sich nicht mit seinen Botschaften mitten auf den Marktplatz. Es wird aufgesucht. Die Seherin konnte am Waldrand leben und war dennoch keine Außenseiterin, sondern geachtetes Mitglied der Gemeinschaft. Mehr noch. Sie wurde respektiert und verehrt, weil sie in Krisensituationen das Wissen bereit hielt, das den Stamm überleben ließ.

Zu Hause in der Welt der Assoziationen bewegt sich die Seherin unabhängig und sicher im herausfordernden Feld der menschlichen Ambivalenzen – für diese besondere Gabe wird sie geschätzt und gehört. Das Kassandra- Phänomen ist virulent. „Der von der bildhübschen Kassandra verschmähte Apollon hatte, so erzählt es der Mythos, dieser einen Fluch auferlegt. Sie sagte die Zukunft voraus, wurde dabei aber von niemandem gehört. Genauso sei es auch mit dem Virus gewesen: Viele hätten die Warnungen von Wissenschaftlern einfach ignoriert.“ (4) In einer narzisstischen Gesellschaft wird die Überbringerin der manchmal auch unbequemeren Wahrheit zum Schweigen gebracht. Und irgendwann hört sie auf zu sprechen. Ihre Medizin ist für die Gemeinschaft verloren. Und wenn die Verbindung lange genug unterbrochen ist, weiß die Gemeinschaft nicht einmal mehr, was fehlt.

An dieser Stelle ziehe ich meinen Hut vor der Literatur-Ausgabe der ZEIT zum Jahresende! Nicht nur vor dem Inhalt, der in sich brillant und dazu stimmig zusammengestellt ist. Auch für die familiäre Verbindung zu unseren „Ahnen“ und die Würdigung des schon Gedachten. „Wir können und sollten Geschichten erzählen“ (5) – Kunst und Literatur halten die Verbindung, so dass das Wissen um die eigentliche Medizin für den Menschen, sein Menschsein, nie ganz verloren geht. Bis „Die Seherin“ wieder ihren legitimen Platz in der Mitte der Gesellschaft einnehmen kann?

Die Persönlichkeiten – ein Exkurs

Unter der Überschrift „Jetzt mal ehrlich“ benennt eine der interviewten Politikerinnen die schnörkellose Wahrheit: „In der Politik gibt es kein fröhliches Bekenntnis zur Schuld“. (6) Dabei „war und ist die Bereitschaft, Fehler zuzugeben, eine enorm vertrauensaufbauende Maßnahme.“ (7) Ich möchte gern hinzufügen, dass es gleichzeitig einer gesellschaftlichen Übereinkunft bedarf, dass Fehler machen erlaubt ist.

Das ist neben den vielen Polarisierungen an der Oberfläche vielleicht die Spaltung mit den verheerendsten Folgen. Dass das Menschsein selbst ins Private verschoben wurde.
Schicksalsschläge, Ringen, Hadern, Gelingen, Scheitern – kurz unsere menschlichen Reifeprozesse – werden bestenfalls in den Nischen der therapeutischen Praxen verhandelt. „Draußen“ – im Beruf, in der gesellschaftlichen Verantwortung muss es dann „klappen“. Eindrucksvoll belegt ist das Phänomen durch die Erfahrung der Autorinnen des Nachrufs auf den Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo, der klar sagt: „Wir sind nicht gemacht für das Leben in der anonymen Massengesellschaft. Überall fehlt es an emotionaler Nähe und sozialer Anerkennung.“ (8) Wer nicht Kraft Geburt eine Leidenschaft für Selbstdarstellung und Unfehlbarkeit mitbringt, fühlt sich gedrängt, sich der implizit narzisstischen Gesellschaft anzupassen und „so zu tun, als ob“. Um irgendwann wahlweise unter dem Druck „unmenschlicher“ Anforderungen zusammenzubrechen oder wegen irgendeiner unerlaubten menschlichen Fehlbarkeit von einem Tag auf den anderen „abgesägt“ zu werden. Irgendetwas stimmt hier nicht.

In der ZEIT vom 30. Dezember 2020 heißt es, „Peter Ustinov, Universalgenie … wäre in der Lage gewesen, Europa im Alleingang zusammenzuhalten.“ (9) Eine starke Aussage, der ich spontan zustimme. Aber was macht denn die Person Peter Ustinov aus? Da ist zum einen sein überragendes Wissen. Bestechend wird es durch die Verbindungen, die er mit seinem übergreifenden Blick auf gesamtgesellschaftliche und globale Zusammenhänge herstellt. Es wird getragen von einer nicht einfachen persönlichen Geschichte, die eben nicht „außen vor“ bleibt, sondern sich stimmig verwebt mit den Ansichten und Einsichten über „den Menschen“, die er auf tiefe wie humorige Weise mit uns teilt. Er hat etwas als Mensch durchdrungen, und durch diese Reife entsteht ein Maß an Integrität, durch das alles, was er spricht, erst wirklich zum Tragen kommen kann.

Uns steht ein großer Paradigmenwechsel bevor. Weg vom Konzept von Schuld und Opfer, Richtig und Falsch, das in der Logik von Kampf, Flucht und Überwältigung gefangen bleibt. Hin zu Gemeinsinn und der Anerkennung unserer Menschlichkeit. In der unsere Fehlbarkeit einen Platz hat und unsere hohen inhaltlichen Kompetenzen von einer ebenso hohen Beziehungs-Kompetenz getragen werden. Was trennt unsere noble Einsicht (10) von einem solchen gesellschaftlichen Klima – wo unser Mensch-Sein und damit dann auch die tabuisierte höchst legitime Frage nach persönlicher Reife von den breiten gesellschaftlichen Rändern ins Zentrum rücken darf?

Die Unterschiedlichen – ein Exkurs

Wirtschaft – Wissenschaft – Politik. Was verbindet diese so unterschiedlich scheinenden Bereiche? Unser Menschsein. Auf unserer aktuellen Suche nach Antworten sind wir immer noch zu sehr in unserem gewohnten Silo-Denken gefangen. Menschen, die unterschiedliches Experten-Wissen bereits in ihrer Person zusammenführen, werden schon mal als „Besserwisser“ verunglimpft und scheinen eine große Herausforderung für die Gesellschaft zu sein. (11)

Wir brauchen sie, die multiperspektivischen Runden, in denen eben auch „Universalgenies“ anwesend sind, die die großen Zusammenhänge unter dem spezifischen Blick der Möglichkeiten unseres Menschseins sehen.

Inzwischen wurden sie häufig benannt, die Lücken, die im Krisenmanagement um Corona durch die einseitige Orientierung an den medizinischen Erkenntnissen und den Empfehlungen von Virologen entstanden sind. Einige Wissenschaftler melden sich dazu selbst zu Wort: „Ich glaube, Covid-19 ist eine Krise auf allen Ebenen: der medizinischen, der sozialen, der politischen, der kulturellen und der ökonomischen Ebene. Wir müssen aus ihr lernen.“ (Mark Honigsbaum, Pandemie-Historiker). (12), „Wir wollen, dass die Literatur zumindest überhaupt einmal gehört und ernst genommen wird… Leider setzt die Politik jetzt fast ausschließlich auf quantitative Forschung“ (Jürgen Wertheimer, Literaturwissenschaftler, Gründer und Leiter des Cassandra-Projekts). (13) Geschichte, Soziologie, Mystik, Literaturwissenschaft, Zukunftsforschung, Entwicklungs-Psychologie, Philosophie … es gibt viele ungehörte Perspektiven, die den Blick erst ganzheitlich und Antworten stimmiger werden lassen, wenn es um den Menschen geht.

So ist die Anwesenheit eines Markus Gabriel im öffentlichen Diskurs keine nette Zugabe. Die philosophische Perspektive ist essenziell. Seine Feststellung, eine gesamt-gesellschaftlich relevante Entscheidung (wie bspw. die Verordnung über das Tragen einer Maske), müsse immer auch einen Anteil Menschen einrechnen, die beispielsweise die Notwendigkeit eines bestimmten Handelns nicht einsieht, ohne sie als Menschen zu diskreditieren (14), eröffnet eine wesentlich differenziertere und ganzheitlichere Sicht. Das stimmt. Kein Mensch lässt sich Abwertung gern gefallen. „Gemeinsinn ist immer dann besonders stark, wenn sich Menschen selbst als wirkmächtig erfahren.“ (15) Die Orientierung in einer völlig neuen und auf sehr unterschiedlichen Ebenen als bedrohlich erlebten Situation ist ein individueller Prozess. Als wirkliche Gemeinschaft müssen wir für den Moment mit dem Abbild der Gesellschaft leben können, wie sie gerade ist. Wenn wir etwas Tragfähiges wollen, können wir keinen Menschen und auch keine Perspektive übergehen!

Das Beste geben, Fehler einräumen, Jeden hören – ein gutes Basis-Rezept. Mit der beginnenden Einsicht kommt automatisch die Frage: Wie nehmen wir denn Alle mit? Wie nehmen wir uns selber mit, als Mensch? Wie etablieren wir denn eine solche Tribe-Kultur? Es ist gut, diese Frage zu stellen, sie steckt in der Diskussion um „system-relevante“ Gruppen, sie wird sichtbar in den Runden, deren gewohnte Zusammensetzung aufgebrochen wird durch zusätzliche Sparten und neue Gesichter. Es zeigt sich im aufkeimenden Konzept der Bürgerräte, im Ansatz, das brache Wissen, das Know-How der ungesehenen Hälfte unserer Gemeinschaft, aufzuschließen, abzufragen.

Vieles erinnert an die Kreis-Kulturen indigener Völker. Und wir haben gerade die Chance für einen eigenen Entwurf. Wie sieht er aus für ein „niemand bleibt außen vor“ in unserer modernen Gesellschaft? Tragen wird er nur, wenn er gespeist ist von unseren eigenen zutiefst menschlichen Erfahrungen, die wir – jede auf ihre Weise – aufgerüttelt und durchgeschüttelt durch die Krise gerade machen.

Wie sieht er aus, der Weg in eine „Architektur des Ankommens“ bei uns selbst? „Wie müssen sich Straßen und Plätze anfühlen, damit ein Ministerium für Einsamkeit überflüssig wird? Wie wichtig ist Schönheit als sozialer Faktor? Was braucht es, um uns die Freiheit nehmen zu können, alte Gewissheiten anders zu betrachten?“ Hanno Rauterberg benennt zwei Dinge: einen Sinn für das Sein und ein Gefühl von Herkunft. (16) Ich möchte mit dem Soziologen Heinz Bude ergänzen: „Ein Gefühl für die eigene Zukunft.“ (17) Und als Prozessbegleiterin sage ich: um mehr Irrationalität ins Spiel bringen zu können, braucht es einen hinreichend sicheren Boden – für unsere Nervensysteme!

Das Mögliche – meine persönliche ZEIT-Reise

Was macht mir Hoffnung, dass das Ganze gut geht? DIE ZEIT öffnete über das letzte Jahr die Perspektive deutlich hin zu den essenziellen Fragen, die um die Art unseres Zusammenlebens, um die Natur unseres Menschseins kreisen.

Wenn beispielsweise im Juli 2020 renommierten internationalen Ökonominnen und Ökonomen ein prominenter Platz für einen grundlegenden Diskurs in Sachen „Wachstum“ eingeräumt wird. (18) Und damit statt schneller Antworten die in Krisen einzig richtige Frage nach den richtigen Fragen gestellt wird.

Oder wenn im September der Autor des Artikels „Profit oder Menschenrechte“ (19) das Dilemma zwischen Markt und Moral im Kontakt mit China offen anspricht. Ja, wo ist eigentlich der Ort, die gesellschaftliche Instanz, wo dieses Dilemma verhandelt wird? Die befragten Dax-Chefs bleiben uns die Antwort schuldig.

Im Oktober gibt es statt oberflächlicher Einheits-Feierei einen ehrlichen Blick auf die Lücke, der den ost-westdeutschen Selbstbetrug entlarvt: „die Wunden waren nie zu“. (20) Hübsche Pflaster halten nicht, Identitäten lassen sich nicht an der Oberfläche und ohne wirkliche Begegnung verhandeln.

Erwähnung finden muss der in seiner herausstechenden Differenziertheit wohltuende Beitrag über den Hintergrund von Verschwörungsmythen. Er benennt zumindest die zutiefst menschlichen Phänomene von Ohnmachtserfahrung und dem Bestreben, möglichst schnell ein Gefühl von Selbstwirksamkeit wiederherzustellen – und sei es durch die Kontrolle von Sinnzusammenhängen. (21) Wo sind die Alternativen?

Ein echter Glücksgriff, eine wahre Perle, ist da das Interview mit einem „Hacker der Zivilisation“ (22) – der amerikanische Ökologe Stewart Brand versteht es, zusammen mit ihm unseren geistigen Horizont so zu weiten, dass wirklich neue Sinn- und Zeit-Zusammenhänge für das erforderliche „Lernen in den Tiefenschichten der Kultur“ entstehen. Vom lebensgefährlich-pubertären Alleingang zur „gesamten Menschheit, die kooperiert“ – das ist ein Sprung! Gut und notwendig, ihn zu denken.

Ebenso wichtig, das konkrete Handeln im Hier und Jetzt. Unter der Überschrift „Der eigentliche Kampf gegen die Pandemie wird nicht im Kanzleramt geführt“ stellt DIE ZEIT im November 2020 nicht Zahlen, sondern Persönlichkeiten in den Mittelpunkt – Menschen, die in ihrem Arbeits-Alltag über sich hinauswachsen, wie beispielsweise der bei seinem Antritt völlig unbekannte Martin Horn, der als Freiburger Oberbürgermeister zeigt, wie Bürgernähe und Transparenz trotz oder gerade in Krise geht. (23)

Im Dezember, kurz vor Weihnachten, scheut sich Anna Mayr nicht, den Blick – endlich – auf den ganz großen blinden Fleck zu richten, wenn sie zwischen den abstrakten Corona-Fragen um Zahlen und Fakten eine Pause für das Fühlen unserer Menschlichkeit und eine Form der öffentlichen Trauer einfordert. Da sterben Menschen – dafür emotional verfügbar zu sein, ist eine Frage der Würde. (24) Und unserer Reife.

Die dann auch innerlich Platz schafft für den Blick über den Tellerrand. Dann beschäftigt uns bei den nationalen Debatten um die Impfstoffverfügbarkeit ganz natürlich dessen Zugänglichkeit in allen Regionen dieses Planeten. (25)

Bekennen wir uns zum Menschsein, kommen wir um Momente von Hilflosigkeit nicht herum. Manches, von dem wir in unserer vernetzten Welt wissen, ist unerträglich. Wir wissen von den „Sturmgewehren in Kinderhänden“ (26), wir erfahren von Inhaftierungen, Peitschenhieben – und der Fortsetzung diplomatischer Manöver auf dem politischem Parkett. Vieles von dem, was wir sehen, können wir nicht ändern. Und wir haben immer die Wahl, damit in Beziehung zu sein.

Auf dem Weg ins Reifen stellt sich uns allen diese generelle Frage: Haben wir diese innerliche Kapazität, den längeren Atem, etwas einzuschließen, das uns nicht passt oder unangenehm an die Stellen erinnert, wo wir selbst blinde Flecken haben, an die wir nicht erinnert werden wollen, die uns überfordern?

Wir müssen nicht taub werden. Wir müssen uns nicht abwenden. Indem wir unser Gefühl von Ohnmacht und unsere aktuellen Grenzen anerkennen, bleiben wir für unsere eigene Menschlichkeit verfügbar. Ja, verletzte Menschenrechte haben immer ein Gesicht und unsere Zeugenschaft macht einen Unterschied. (27) Bis aus dem „nur“ Benennen integres Handeln werden kann.

Der Diskurs ist eröffnet. Wir sind in der Verhandlung der zentralen Werte, um die wir uns als Menschen-Gemeinschaft versammeln wollen.

Klaus Schwab, Begründer des Weltwirtschaftsforums, nannte kürzlich auf einer Pressekonferenz zum Jahrestreffen die (Wieder)-Herstellung von Vertrauen die wichtigste Aufgabe angesichts der brandaktuellen Fragen nach einer gerechteren Wirtschaftsordnung. (28) Ob das eine Phrase bleibt (29) oder tatsächlich der Impuls für eine tiefgreifende Veränderung durch seine Reihen geht – mit „Vertrauen“ kann ganz sicher kein blindes und auch kein kindliches Vertrauen gemeint sein. Vertrauen ist eine Funktion von Reife. Und Reife setzt sich durch.

Es gibt sie, die vorbildhaften starken Persönlichkeiten auf der gesellschaftlichen Bühne – wenn wir unseren Blick auf die Bühne um das „hinter den Kulissen“ erweitern und diese Perspektive zur neuen Bühne werden lassen, auf der alle Punkte ausgeleuchtet sind und gleichzeitig im Zentrum stehen. Wir sind bereit für neue Narrative. Und werden zukünftig immer mehr von diesen neuen Geschichten hören.

Das Notwendige – unsere gemeinsame Zeitreise

Dabei ist klar: unsere bisherige Geschichte kann nicht übersprungen werden. Ob gesellschaftlich oder individuell – da gibt es keinen Short-Cut – keine Abkürzung, kein „Außenrum“. Aus der Betäubung über das Wiedererlangen unserer Selbstwirksamkeit in die Kooperation – das neue gute Zusammen, das auf unser Aufwachen folgen kann, erfordert unser meisterhaftes Navigieren durch den Sturm. „Klima ist zur Chiffre für den Zustand unserer Welt geworden, für den verrücktesten Kampf der Geschichte: Wir gegen uns.“ (30) Für einen grundsätzlichen Klimawandel braucht es den Boden eines neuen Vertrauens in den Menschen. In unseren Nervensystemen ist er als Möglichkeit angelegt. Er muss nur kultiviert werden. Ja, „Die Geschichte von der Menschheit, die sich solidarisch rettet, hat Sinnpotential.“ (31)

Wenn wir diese Beziehung, die mit uns, der Mensch mit dem Menschen, geklärt haben, werden wir auch Augen haben für die wirklich bedrohliche Beziehungskrise. Als „Stille“ möchte ich es in die Welt hineinrufen: Wie ist es denn zu der Situation gekommen, die uns jetzt so in Not bringt? Ein grenzenloses Maß an Übergriffigkeit gegenüber der Natur und den Lebewesen um uns herum ist die schamvolle Vorgeschichte, von der wir uns anfassen lassen dürfen, ohne (!) vor Scham im Boden zu versinken. Bereit für die Einsicht: hier ist etwas nicht in Ordnung. Dann haben wir die Chance zu sehen: Hier ist etwas aus dem Lot und eine tragende – überlebenswichtige – Beziehung gehört dringlich repariert. Wir wissen jetzt, wie das geht.

„Zunächst müsste die existenzielle Krise im Mensch-Natur-Verhältnis umfassend behandelt werden.“ (32) Wenn wir in unserem Diskurs essenziell werden, liegt der Klimakrise, dem Artensterben und der wachsenden Pandemie-Gefahr die gleiche Ursache zugrunde. Der Reifegrad unserer Beziehungsfähigkeit. Ein guter Vorschlag ist es, erst einmal innezuhalten und zu schauen, mit wem wir es denn eigentlich zu tun haben, und zwar jenseits des Aspekts der Nützlichkeit für uns selbst – wie bei jeder guten Begegnung. (33)

Die Möglichkeits-Tür ist gleichzeitig eine Notwendigkeits-Tür. Wir stehen an einer Schwelle. Mit oder ohne uns – ein neuer Zyklus beginnt. Wie meistern wir das als Individuum ganz physisch, psychisch, seelisch – mitten in diesem gigantischen Umbruch zu stehen, in unserer ganzen verdrängten Fragilität ausgesetzt den rauen Kräften der Veränderung? Was ist unsere Antwort auf das alte Menschheitsrätsel – die evolutionäre Spannung zwischen unserer Sehnsucht nach Verbindlichkeit und Verbundenheit und dem freiheitsliebenden genialen Entdeckergeist unserer Kreativität?

Stellen wir uns dem notwendigen Entwicklungsschritt vom resignierten „abspalten“ und aktivistischen „kämpfen“ (ob für oder gegen etwas) hin zu einem wirklichen „einlassen“?
Entwickeln wir die Kapazität, neben unserer Grandiosität auch mit unserer Überforderung und mit unserer Fehlbarkeit in Beziehung zu bleiben?

Fangen wir bei uns selbst an. Stellen wir uns der essenziellsten der vielen offenen Fragen. Wie geht konsequent Verantwortung übernehmen für unser menschliches Reifen? Es ist ein neues Kennenlernen, bei dem wir uns viel austauschen werden.

Liebe ZEIT. Danke für die zunehmende Zahl an Beiträgen, die in dem großen globalen Veränderungsprozess die Natur unseres Menschseins in den Blick nehmen. Ich traue Ihnen viel zu. Von der Rand-Notiz und den Zwischentönen zum zentralen reference point – das könnte den Unterschied zwischen einer „Etwas anderen ZEIT“ und einer „Neuen ZEIT“ machen.

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Die folgende Auswahl an Artikeln war Inspiration für diesen Text:

(1) Alternativlos gibt’s nicht, Von Thea Dorn, Peter Dabrock, Juli Zeh, Eugen Ruge, Christiane Stella Bongertz, Daniel Barenboim, Seyran Ateş, Klaus Mertes und Bernhard Pörksen, DIE ZEIT Nr. 46/2020, 5. November 2020
Keiner kann derzeit sagen, wie der Königsweg aussieht, um mit der Covid-19-Pandemie umzugehen. Der erste Shutdown wurde von ängstlichem Schweigen begleitet. Es ist zu befürchten, dass der zweite Shutdown just jene Gereiztheit befeuert, die unsere gesellschaftlichen Auseinandersetzungen schon seit Längerem vergiftet. Höchste Zeit, sich auf das zu besinnen, was eine demokratische Gesellschaft stark macht: angstfreie, kritische Vielstimmigkeit. Demokratie ist kein Solostück, sondern die Leistung von vielen. Neun Autoren, neun Perspektiven, neun Ideen, wie wir den gegenwärtigen Herausforderungen besser begegnen könnten

(2) Aggressive Mimosen, Von Thea Dorn, DIE ZEIT Nr. 36, 27. August 2020
Kein neuer Willy Brandt, kein neuer Richard von Weizsäcker in Sicht. Keine Persönlichkeit, die einen allerhöchsten Grad an Integrität und Glaubwürdigkeit besitzt, deren innerer Kompass so verlässlich ist, dass er sich von den grassierenden Hysterien nicht irremachen lässt, die Empathie mit Strenge zu verbinden weiß, die den himmelweiten Unterschied zwischen echter Autorität und autoritärem Gebaren kennt. In einzelnen Bereichen, in Rathäusern, Unternehmen, Kliniken, gibt es solche Persönlichkeiten, gewiss. Doch auf der großen gesellschaftlichen Bühne fehlen sie. Und wie lange sich die Autorität demokratischer Institutionen behaupten kann, wenn das Prinzip der Autorität insgesamt erodiert, ist fraglich.

(3) Leiser, bitte! Von Kerstin Bund und Marcus Rohwetter, DIE ZEIT Nr. 49, 28. November 2019
Unser Wertesystem sei geprägt vom Glauben, »der Idealmensch sei gesellig, ein Alphatier und fühle sich im Rampenlicht wohl«, schreibt Susan Cain in ihrem Buch Still – Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt. Cains These: Ob- wohl es gleich viele Introvertierte wie Extrovertierte gibt, obwohl beide Gruppen – im Schnitt – gleich intelligent sind, setzten sich die Lauten und Energie- geladenen durch. Jene, die sich selbst und ihre Ein- fälle gut verkauften. Die Stillen und Nachdenklichen hingegen blieben auf der Strecke.

(4) Die Krisenseismografin, Von Benedikt Herber, DIE ZEIT Nr. 2, 7. Januar 2021
Die Krise, sagt Wertheimer, habe ihm vor allem eines klargemacht: Das Kassandra- Phänomen sei virulent. Der von der bildhübschen Kassandra verschmähte Apollon hatte, so erzählt es der Mythos, dieser einen Fluch auferlegt. Sie sagte die Zukunft voraus, wurde dabei aber von niemandem gehört. Genauso sei es auch mit dem Virus gewesen: Viele hätten die Warnungen von Wissenschaftlern einfach ignoriert.

(5) 2020 – Was für ein Jahr! Der große literarische Jahresrückblick der ZEIT, darin: Kann Vergangenheit trösten? Von Giovanni di Lorenzo, DIE ZEIT Nr. 51, 7. Dezember 2020
Dieses Zurückblicken ist aber kein Zeichen des Stillstands … sondern Ausdruck eines wachsenden Bewusstseins dafür, dass wir eine Geschichte haben, dass wir Geschichten erzählen können und sollten.

(6) Jetzt mal ehrlich, Von Hannah Knuth und Anna Mayr, DIE ZEIT Nr. 36, 27. August 2020

(7) Vertraut der Vernunft des Einzelnen, Von Christiane Stella Bongertz, in Alternativlos gibt’s nicht, DIE ZEIT Nr. 46, 5. November 2020

(8) Wir können nicht allein leben, ohne Schaden zu nehmen, Von Kathrin Hörnlein und Jeannette Otto, DIE ZEIT Nr. 48, 19. November 2020
Wir sind nicht gemacht für das Leben in der anonymen Massengesellschaft. Überall fehlt es an emotionaler Nähe und sozialer Anerkennung.

(9) Der gute Bär, Von Peter Kümmel, DIE ZEIT Nr. 1/2021, 30. Dezember 2020
Sir Peter Ustinov hat gegen den kleinlichen Zorn seinen Witz gesetzt: Als Weltbürger und Komiker. Er wäre in der Lage gewesen, Europa im Alleingang zusammenzuhalten.

(10) Stärke aus Demut. Ein Kommentar von Robert Pausch, DIE ZEIT Nr. 1/2021, 30. Dezember 2020
Nun muss man wissen, dass den wenigsten Politikern dieses Unfehlbarkeitsschauspiel Spaß macht. Sie zweifeln und zögern. Nur eben nicht öffentlich, denn hier gelten die Regeln des politischen Betriebs und des ihn umschwirrenden Journalismus, und die besagen: Macht entsteht durch Entschiedenheit, Fehler müssen verschwiegen oder, besser noch, in Phrasen gehüllt und zur tieferen Wahrheit erklärt werden.

(11) Der Besser-Wisser, Von Peter Dausend, DIE ZEIT Nr. 46, 5. November 2020
Ein frei flottierender politischer Solo-Selbstständiger wie Karl Lauerbach irritiert, stört das Raster.

(12) Es gab stets einen Zyklus von Panik und Gleichgültigkeit. Ein Interview mit dem Pandemie-Historiker Mark Honigsbaum, von Jakob Simmank, ZEIT online, 6. Februar 2021
Ich frage immer: Ist Covid-19 ein Notfall oder eine Krise? Bei einem Notfall verändert sich vorübergehend die Ordnung der Dinge, wir kehren dann aber schnell zur alten Ordnung zurück. Eine Krise hingegen ist qualitativ anders. Sie hat einen anderen Zeitrahmen. Sie verlangt von uns, dass wir Normalität neu definieren und mit der Vergangenheit brechen. Ich glaube, Covid-19 ist eine Krise auf allen Ebenen: der medizinischen, der sozialen, der politischen, der kulturellen und der ökonomischen Ebene. Wir müssen aus ihr lernen.

(13) Die Krisenseismografin, Von Benedikt Herber, DIE ZEIT Nr. 2, 7. Januar 2021
… wir wollen, dass die Literatur zumindest überhaupt einmal gehört und ernst genommen wird… Leider setzt die Politik jetzt fast ausschließlich auf quantitative Forschung …“ Man konzentriere sich auf das, was angeblich „systemrelevant“ sei. Eigentlich müsse man sich gegenseitig ergänzen: „Wir gehen dorthin, wo automatisierte Textanalysen nicht hingelangen können. Auf die Ebene von Assoziationen und Ambivalenzen.“ Wenn Entscheidungsträger diese nicht mehr begriffen, menschliches Handeln nur noch auf Einsen und Nullen herunterbrächen, dann sei das gefährlich. „Dann droht uns eine Steuerungs-Technokratie“, sagt Wertheimer.

(14) Spiegel-Live Interview mit Markus Gabriel und Karl Lauterbach, 17. Oktober 2020, https://www.spiegel.de/kultur/corona-karl-lauterbach-diskutiert-mit-markus-gabriel-ueber-die-folgen-der-pandemie-a-aa09129d-3ea9-4051-a94b-90857f2b015e

(15) Bürger an die Macht! Die Zukunft werden die Städte nur gewinnen, wenn sie sich verwandeln – und den Gemeinsinn neu entdecken, Von Hanno Rauterberg, DIE ZEIT Nr. 1/2021, 30. Dezember 2020

(16) Eine Architektur des Ankommens, Von Hanno Rauterberg, DIE ZEIT Nr. 28, 2. Juli 2020
Rational wäre es, mehr Irrationalität ins Spiel zu bringen … Das neue Planerziel hieße: den gesellschaftlichen Bindestoffen eine Gestalt verleihen – für eine Architektur des Ankommens.

(17) Nicht die Welt geht unter, sondern die Welt der Menschen. Ein Interview mit Heinz Bude, von Stephan Lebert, DIE ZEIT Nr. 54, 23. Dezember 2020

(18) Geht es auch anders? Von Tim Jackson, Dennis Meadows, Robert Solow, Clemens Fuest, Mariana Mazzucato, Jeffrey D. Sachs und Claudia Kemfert, DIE ZEIT Nr. 29, 9. Juli 2020
Ich halte das für die falsche Frage. Das Problem ist nicht die Wachstumsrate, sondern was das bessere Maß für Wachstum, die bessere Richtung für Mensch und Planeten ist… So wie wir heute Wachstum messen, erfassen wir einige der essenziellen Teile unserer Wirtschaft nicht oder nur unzureichend.

(19) Profit oder Menschenrechte? Wie halten sie es mit China?, Von Claas Tatje, DIE ZEIT Nr. 39, 17. September 2020

(20) Geteilte Freude, Von Martin Machowecz, DIE ZEIT Nr. 41, 1. Oktober 2020

(21) Hier walten geheime Mächte, Von Thomas Assheuer, DIE ZEIT Nr. 41/2020, 1. Oktober 2020 Wenn Leo Löwenthal recht hat, dann fallen Verschwörungsnarrative immer dann auf fruchtbaren Boden, wenn der psychische Apparat des Einzelnen mit einer verwirrend komplexen Gegenwart überfordert ist, genauer: wenn es dem Einzelnen unmöglich ist, seine Krisenwahrnehmungen in ein sinnvolles Schema „einzulesen“, und er das Gefühl bekommt, dem Weltgeschehen wehrlos ausgeliefert zu sein. Wenn es in der Gegenwart schon nicht mit rechten Dingen zugeht, dann wenigstens mit falschen.

(22) Ich bin ein Hacker der Zivilisation, Interview: Bernhard Pörksen, DIE ZEIT Nr. 42, 8. Oktober 2020 Es wäre illusionär, schnelle Lösungen zu erwarten, die über Nacht funktionieren, es also an der Zeit ist, langfristiges Denken im Umgang mit Menschheitsgefahren zu trainieren. All das macht die Corona-Krise zu einer Lehrstunde der Zivilisation … das neue Wir, das im Zuge der Pandemiebekämpfung gebraucht wird, konstituiert sich aus Gesellschaften, Nationen und letztlich der gesamten Menschheit, die kooperiert. Und ebendies gilt auch für die Klimakrise.

(23) Auf sie kommt es jetzt an. Von Moritz Eisslinger u.a., DIE ZEIT Nr. 46, 5. November 2020
Die Wut der Menschen auf die Corona-Bestimmungen der Bundesregierung, er hat sie abbekommen und konnte nicht immer parieren … Ist das seine Aufgabe? Horn sieht es so. „Ich weiß nicht, welcher Bürgermeister sich das sonst noch antut am Freitag Abend“.

(24) Die Allerletzte Ehre, Von Anna Mayr, DIE ZEIT Nr. 53, 17. Dezember 2020
Wer über eine Seuche spricht, der spricht dabei auch über den Tod. Im Sprechen über Covid-19 vermeiden wir aber, das Sterben zu erwähnen. 

(25) Reiche zuerst. Von Andrea Böhm. DIE ZEIT Nr. 1/2021, 30. Dezember 2020

(26) Sturmgewehre in Kinderhänden, Von Hauke Friederichs, DIE ZEIT Nr. 46, 5. November 2020

(27) Schaut weiter hin, Von Alice Bota, DIE ZEIT Nr. 36, 27. August 2020 und Dieses Lachen! Der Westen soll weiterhin mit dem Iran reden – aber er soll dabei in das Gesicht der Anwältin Nasrin Sotudeh schauen, Von Navid Kermani, DIE ZEIT Nr. 52, 10. Dezember 2020

(28) Mitschnitt der Video-Pressekonferenz Januar 2021: www.weforum.org/events/the-davos-agenda-2021

(29) The Great Reset, Die Davoser Gutmenschenverschwörung, Eine Kolumne von Heike Buchter, DIE ZEIT online, 1. Februar 2021 zitiert Greta Thunberg mit „Wir verstehen, dass die Welt komplex ist und Veränderungen nicht über Nacht möglich sind. Doch ihr hattet jetzt mehr als drei Jahrzehnte Blabla. Wie viele mehr braucht ihr?“

(30) Wir gegen uns, Ein Kommentar von Bernd Ulrich, DIE ZEIT Nr. 39, 17. September 2020

(31) Hupen hilft hier nicht mehr. Warum nicht das Klima in der Krise ist, sondern die Menschen – fünf Jahre Pariser Abkommen, Von Petra Pinzler und Bernd Ulrich, DIE ZEIT Nr. 52, 10. Dezember 2020
Denn im Grunde gibt es ja keine Klimakrise. Auch bei vier Grad Temperaturanstieg wird noch blühendes Leben auf der Erde sein, nur nicht mehr so viel blühendes menschliches Leben …
Auf diese Weise bringt die Debatte über das Pariser Abkommen nicht nur das Grauen zum Verschwinden, das schon in den 1,5 Grad liegt, sie marginalisiert auch die jungen Leute als Idealisten … Materieller Fortschritt und Verdrängung … zunächst müsste die existentielle Krise im Mensch-Natur-Verhältnis umfassend behandelt werden.

(32) ebenda

(33) In Ruhe lassen, Ein Kommentar von Fritz Habekuß, DIE ZEIT Nr. 3, 14. Januar 2021
Nun kann der Mensch viel, Nichtstun kann er nicht so gut. Das aber muss ihm jetzt gelingen: Wälder Wald sein lassen, Meeren die Zeit geben, sich von Überfischung zu erholen, Moore sich regenerieren lassen. Dann nämlich dient die Natur dem Menschen am meisten, indem sie Krankheiten von ihm fernhält, klimaschädlichen Kohlenstoff speichert und einen Puffer schafft gegen die Katastrophen der Klimakrise… Doch müssen die Routinen für eine Weltpolitik des Inruhelassens und des Zurücktretens erst noch erfunden werden.